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Michael Vrüsch: Wirklichkeit und Existenz.

Michael Vrüsch: Wirklichkeit und Existenz: Doderers Wirklichkeits- und Literaturverständnis zwischen Ideologie und Erfahrung. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang 1998 (Europäische Hochschulschriften Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur; 1685). 206 S., Broschur, EUR 33,20 / SFr 53,- / US$ 37,95 / £ 24,-

Diese Düsseldorfer Dissertation hat bisher nicht für Furore unter den Doderer-Philologen gesorgt, und sie wird es wohl auch in Zukunft nicht tun. Allein die "Hauptthese" der Arbeit genügt, dies zu verhindern: "Doderer" so heißt es da, "versucht, die Erfahrungsbereiche der einzelnen Existenz innerhalb der durch gesellschaftliche und historische Entwicklungen vermittelten allgemeinen Erfahrung transparent zu machen." (S. 9) Wer, so fragt man sich, tut das nicht? Anders: gibt es überhaupt eine Literatur, die Leben und Wirklichkeit nicht in der einen oder anderen Form berücksichtigt? So wie ihre "Hauptthese" ist im Grunde die gesamte Arbeit: nur selten löst sie sich aus dem nichtssagend Unverbindlichen und stellt wirklich etwas fest, das angreifbar - und damit diskutabel - wäre.
Dabei beherrscht Vrüsch die Kunst des Sich-Festlegens durchaus: die für Doderer zentralen Begriffe: Apperzeption, Erinnerung, Existenz und Wirklichkeit werden schlüssig erklärt (S. 9 - 15), die begriffsgeschichtlichen Ausführungen zu Wirklichkeit und Wahrheit (S. 25 - 32) sowie zu Apperzeption (S. 140 - 158) liefern solide Informationen, und auch Vrüschs Auseinandersetzung mit der einschlägigen Sekundärliteratur, insbesondere den Arbeiten von Schröder (S. 15 - 20, 99 u. 193f.), Blaschek-Hahn (S. 20ff.) und Schupp (S. 169f.) ist ebenso kritisch wie sachkundig geraten und daher eine lohnende Lektüre (man kann das alles aber auch woanders nachlesen).
Um so bedauerlicher ist es, daß er im Zentrum seiner eigenen Erforschung des Dodererschen Œuvres die Unverbindlichkeit methodisch verankert: Ziel der Arbeit sei es, "inhaltlich die philosophischen Topoi Heideggers mit Theoremen Doderers zu konfrontieren." (S. 22) Dabei richte sich die "Aufgabenstellung [...] weniger danach, inwiefern Doderer mit der Philosophie Heideggers explizit vertraut gewesen ist", vielmehr interessiere "die Darstellung der existentialistischen bzw. lebensphilosophischen Prägung der literarischen Texte Doderers." (S. 23) Kurz: es geht nicht um den Nachweis von Beziehungen oder Einflüssen, sondern lediglich um die Darstellung von Ähnlichkeiten. Da aber mit ein wenig Zeit, Phantasie oder Intellekt alles jedem auf die eine oder andere Weise 'ähnlich' wird, erhält Vrüsch die Gelegenheit, sich ausführlich über Doderer und Heidegger zu verbreiten, ohne dabei jedoch für die Forschung relevante - greifbare - Ergebnisse erzielen zu müssen. Frei nach dem Motto: wer nichts feststellt, kann auch nichts falsch machen. Obwohl er dementsprechend selten etwas feststellt, gelingt es Vrüsch aber dennoch (relativ oft), etwas falsch zu machen.
Keineswegs nämlich "beginnt die Geschichte [der Dämonen] in der Halle eines Fernbahnhofes" (S. 57) und einen "René Stangler" (S. 64 (viermal) u. 66 (dreimal)) gibt es darin auch nicht. Nun, irgendwie so 'ähnlich' wird sie schon geschrieben, diese Hauptfigur des Romans; man fragt sich jedoch, ob eine Textkenntnis dieser Art ein Symptom oder doch eher eine Folge der methodisch profilierten Ähnlichkeit ist. Indes, auch eine 'ähnliche' Geschichte muß, dank ihrer völlig neuen Perspektive, nicht ohne Reiz sein für den Leser: "Ausgangspunkt sind die 'Schattendorfer Morde' vom 30. Januar 1927 als Resultat der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen dem (faschistischen) 'Republikanischen Schutzbund' und den (sozialistischen) 'Frontkämpfern.'" (S. 74f.)
"Denken ist ein Notbehelf, wenn die Wahrnehmung versagt." Bezeichnenderweise dieser Satz Bergsons steht als Motto vor dem Kapitel, in dem erstmals ein Text Doderers, das "Divertimento No VII", analysiert wird (S. 87 - 115). Man mag dem zustimmen oder nicht, der Analyse hätte es gewiß nicht geschadet, wenn Vrüsch sich beholfen hätte, von seiner genauen und differenzierten Wahrnehmung des Textes zeugt sie nämlich nicht. So gelangt er gerade mal zu Erkenntnisansätzen, wo Erkenntnisse durchaus möglich gewesen wären, und bleibt ratlos, wo der Text seine raffiniertesten (und auf den ersten, zweiten und dritten Blick unverständlichen) Metaphern ausspielt: Nasen- bzw. Bartriß sind keineswegs "skurriler Unsinn", auch nicht "textimmanent als realisierte Handlungen" (S. 105), sondern hochfunktionale Komponenten eines inhaltlich wie formal extrem versiert gestalteten Textes. Ratlose Deutungen auch für Rambauseks (lange) Nase und den "außerordentlich entwickelten Vollbart" des "elegant gekleidete[n] Mann[es]" (Erzählungen 185): "phallische Symbole, der Abriß derselben intendiert folglich eine Entmannung." (S. 106) Womit man wieder bei der Ähnlichkeit wäre: Nase und Bart werden nur gerissen, aber nicht abgerissen: sie bleiben dran am Mann.
Was dagegen wirklich fehlt, obwohl es doch dazugehören sollte, ja müßte, zu dieser Dissertation nämlich, ist ein wenig philologische Akribie: So behauptet Vrüsch etwa, daß Doderer im "Autobiographischen Nachwort" zu Das letzte Abenteuer den "Bergsonschen Zeitbegriff" (S. 185) aufgreife, und nimmt dies zum Anlaß für einen Exkurs zu Bergson, in dem dann allerdings weder Doderers wiederholte, in den Tangenten dokumentierte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Zeit noch seine ebenda belegbare Kenntnis Bergsons (vgl. Tangenten 391) angesprochen, geschweige denn auf mögliche Bezüge zueinander untersucht werden. Nun, auch mit Ähnlichkeiten lassen sich Seiten füllen, aber wer - Rezensenten ausgenommen - muß das am Ende wirklich lesen?

Gerald Sommer

Mail an den Rezensenten

Erschienen in: "Schüsse ins Finstere". Zu Heimito von Doderers Kurzprosa. Hrsg. v. Gerald Sommer u. Kai Luehrs-Kaiser. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001 (Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 2), S. 266f. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Copyright © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2001.
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